Die Wiese der Seelen

Eine Geschichte vom Leben

Als das Wesen Parva am Ende seines Lebens angelangt war, da war die Liste der schlechten Taten, die es begangen hatte länger als die Liste derer, die es noch ausgelassen hatte. Und so gefiel es dem Göttlichen Wesen, das für den Kreislauf des Lebens auf der Welt, auf der Parva lebte, zuständig war, Parva die Wiedergeburt als Pflanze auf einer Wiese zuteilkommen zu lassen.

Nun verhält es sich mit der Wiedergeburt auf dieser Welt so, dass als einfachere wiedergeborene Wesen sich sehr viel stärker an ihr früheres Leben erinnern als komplexere. Lebewesen, die gar zwischen gutem und bösem Tun entscheiden können. Diese vergessen ihr früheres Leben gänzlich. So erwachte das Wesen Parva als Pflanze auf einer Wiese und erinnerte sich fortan seines früheren bösen Lebens. Und voller böser Erinnerungen ging sein Pflanzenleben dahin und Parva welkte und wurde auf der Wiese wiedergeboren.

So wuchs das Wesen Parva weiterhin auf der Wiese und bedachte traurig sein früheres finsteres Leben. Und mit ihm die anderen grünen Gräser und bunten Wiesenblumen. Irgendwann lernte es das Wesen Vare kennen, das ebenfalls auf der Wiese wuchs. Gemeinsam gedachten sie nun ihrer früheren Leben und meist waren sie vereint in Wut oder Trauer. Manchmal widerfuhr es ihnen jedoch, dass sie über einst Erlebtes lachen konnten und aus ihrer Traurigkeit und ihrer Wut wurde Bedauern, früher nicht häufiger so gelacht zu haben.

Die Lebenskreise der Pflanzen rollten dahin wie große bedächtige Mühlsteine und ein um das andere Mal wuchsen die Wesen Parva und Vare auf der Wiese und teilten die Erinnerungen ihrer Leben als sie noch keine Pflanzen gewesen waren. Als das Wesen Parva nach einem weiteren Kreislauf erneut in der Erde der Wiese Wurzeln schlug stellte es fest, dass Vare nicht mehr da war.

„Habt ihr Vare gesehen“ fragte es die anderen Pflanzen auf der Wiese. Doch niemand hatte Vare gesehen und als Parva laut darüber nachdachte was mit Vare geschehen sein mochte, sagte ein Wesen, das wie ein roter Klatschmohn blühte „Vare ist aufgestiegen und hat den Kreislauf der Pflanzen verlassen und Frieden mit seinem früheren Leben geschlossen.“

„Frieden mit seinem früheren Leben – wie soll das gehen?“ fragte sich da das Wesen Parva und schaute sich fragend um und sah die Wiese mit all ihren Wesen, die dort wuchsen. Dann hatte es plötzlich eine Idee oder vielmehr war es mehr ein Gefühl, das sich ganz anders anfühlte als die gewohnte Traurigkeit. „Ja“, sagte es zu sich selber „ich will nun nur noch ganz Pflanze sein.“ Und so wuchs und gedieh die Pflanze Parva prächtig und aber sie kehrte Jahr für Jahr auf die Wiese zurück.

Es war an einem hellen warmen Tag als die Erde der Wiese unter schnellen Schritten leicht erzitterte. Das Wesen Parva hatte gerade wieder die ersten roten Blüten angesetzt, die wie Klatschmohn aussahen, als es zwei junge Wesen sah, die fröhlich über die Wiese liefen. Und Parva erinnerte sich, dass es früher auch so gelaufen war. Doch ehe es sich in der kummervollen Geschichte seines Lebens ergehen konnte beugte sich eines der Wesen herab und schnitt die Pflanze Parva mit einem scharfen Messer ab. „Hier liebe Vare, diese schöne Blume ist für das lieblichste Wesen im Universum.“ sagte das junge Wesen und hielt dem Wesen, das es Vare genannt hatte, aufgeregt und erwartungsvoll die rote Blume hin. Das Wesen Vare errötete und lachte froh.

All das vernahm das Wesen Parva nicht mehr aber es kehrte auch nicht wieder auf die Wiese der Seelen zurück.